Die Iktus-Frage: Iktus und Fehlbetonung (I)

Kehren wir nun zur spezifischen Problematik der Fehlbetonung antiker Dichtung durch iktierendes Lesen zurück! Um den Effekt falscher Betonung als MuttersprachlerInnen nachfühlen zu können, lesen Sie folgenden deutschen Vers, wie Sie es vom Lateinischen bisher gewohnt sind, iktierend und ignorieren Sie dabei den Ihnen vertrauten natürlichen Wortakzent! Der Iktus ist mit Unterstreichungen markiert.

In Jena und Weimar macht man Hexameter wie den!
Doch der Pentameter ist noch viel fuerchterlicher!

(Fürchtegott Christian Fulda)

Wenn Sie dies in der Art und Weise gelesen haben, hätte sich Ihr deutsches Distichon ungefähr so anhören müssen:

Die Iktus-Frage: Iktus und Fehlbetonung (II)

Sehen Sie nun, wie der Wortaktzent gegen den Iktus (s. die Unterstreichungen) steht:

In Jéna und Weímar macht man Hexámeter wie dén!
Dóch der Pentámeter íst noch viel fǘrchterlicher!

Machen Sie sich mit dem Gedanken vertraut, dass Sie lateinische Verse, wenn Sie sie iktierend vortragen, so verballhornend lesen, wie Sie es eben mit dem deutschen Vers getan haben. Betrachten Sie zur Illustration den folgenden Auszug aus Vergils Aeneis, in dem das Auseinanderdriften von natürlichem Wortakzent und Iktus (s. die Untersteichungen) wiederum markiert ist:

Árma vírumque cánō, Trṓiae quī prī́mus ab ṓrīs
Ītáliam fā́tō prófugus Lāvī́niaque vḗnit
lī́tora, múltum ílle et térrīs iactā́tus et áltō
vī súperum, saéuae mémorem Iūnṓnis ob ī́ram,
múlta quóque et béllō pássus, dum cónderet úrbem
īnférretque déōs Látiō; génus únde Latī́num
Albā́nīque pátrēs átque áltae mnia Rṓmae.

(Verg. Aen. 1,1–7)

Alleine in diesem kurzen Beispiel liegen natürliche Wortbetonung und Iktus zwanzig Mal auseinander. Im Hexameter kommen beide Systeme nur am Versende – im fünften und sechsten Versfuß – regelmäßig in Deckung.

Ohne den Iktus vorgetragen – also so wie Sie sich den Text anhören konnten – mag der Rhythmus lateinischer Verse für SprecherInnen des Deutschen schwieriger zu hören sein: Er kommt durch die geregelte Abfolge von langen und kurzen Silben zustande. Diesen durch die gebundene Abfolge von Silbenquantitäten entstehenden Takt hätten lateinische MuttersprachlerInnen sofort herausgehört. Es lässt sich also festhalten, dass beim Vortrag lateinischer Verse genauso wie beim Sprechen lateinischer Prosa die Vokalquantitäten, Doppelkonsonanten und Wortakzente sauber umgesetzt werden müssen. Der Iktus darf dabei aber nicht zum Wortakzent gemacht werden.