Texte lesen

Nun wollen wir uns an das Sprechen ganzer Texte bzw. Textabschnitte wagen. An dieser Stelle könnten Sie sich als Lehrkraft fragen: Warum soll ich ganze lateinische Texte in historisierender Aussprache einüben? Nur, damit ich wissenschaftlich auf dem aktuellsten Stand arbeite?

Bei der historisierenden Aussprache ganzer Texte geht es allerdings nicht per se um wissenschaftliche Erkenntnisse. Vielmehr soll (vor allem im Unterricht) eine Annäherung an das „echte“ antike Leben ermöglicht werden. Literatur war die gesamte Antike hindurch stets oral-auditiv präsent. Bemühen um Authentizität muss ein wesentliches Ziel des Lateinunterrichts sein. Die Teilhabe am antiken Rom und seinem Alltag wird in modernen Lehrwerken bisher durch Szenen aus dem Alltagsleben und der Geschichte angeboten. In puncto Authentizität kann man allerdings durch die historisierende Aussprache noch einen Schritt weitergehen. Lateinische Texte werden durch sie lebendig – die vermeintlich tote Sprache blüht auf. So wird lateinische Literatur in ihrer Emotionalität und Aussagekraft erst ganzheitlich erfahrbar. Die von den Autoren intendierten Klangwirkungen sind dabei unentbehrlich. Ohne eine historisierende Aussprache können sie jedoch nicht vermittelt werden.

Es wäre aber falsch, unsere Bemühungen hier enden zu lassen. Denn die historisierende Aussprache ist letztlich Mittel zum Zweck: Die Vergangenheit kann nur dann lebendig werden, wenn ein Sprecher dem Text neben seiner Stimme auch seine Persönlichkeit verleiht. Sollte es als Lehrpersonen nicht unser Ziel sein, dass unsere Schülerinnen und Schüler mit der Zeit den Eindruck gewinnen, dass Latein eine sehr lebendige Sprache ist? Das Lernen lohnt sich dann vollends, wenn wir das Lateinische mit Ausdruck und Empfindung aussprechen. Nur dies schafft – in Verbindung mit der historisierenden Aussprache – Authentizität. Dies zu tun, erfordert meistens viel Selbstüberwindung! Man hat Angst, sich lächerlich zu machen, weil es fremde Gefühle sind, die man nachzuahmen versucht. Diese Selbstüberwindung wird am Ende belohnt – nicht nur durch die Zustimmung der Schülerinnen und Schüler, sondern auch dadurch, dass man sich Caesar, Sallust, Catull, Ovid und allen anderen bedeutenden Literaten zunehmend näher fühlt.

Diese Rubrik ist für einen effizienten Lernerfolg in Einzelschritte unterteilt. Zunächst soll das Thema, das im schulischen Kontext in puncto Aussprache am meisten Aufmerksamkeit auf sich zieht – das Vortragen von Dichtung – beleuchtet werden. Es soll in aller Deutlichkeit vermittelt werden, dass der durch das iktierende Lesen entstehende Eindruck, es bestünden substanzielle Unterschiede zwischen dem Sprechen von Dichtung und Prosa, zu einer falschen Auffassung bezüglich der Aussprache führt. Im Gegenteil: Zwischen dem Lesen von Prosa und Dichtung besteht kein Unterschied. Der Rhythmus kommt durch die bewusste Konstruktion von Versquantitäten zustande, nicht durch den Iktus. Die Rhythmusqualität durch Versquantitäten wird auch in Prosatexten genutzt, um klangliche Effekte zu erzielen. Dies wird in der Teileinheit Prosa lesen ausführlich beleuchtet. Die beiden Rubriken Verse lesen und Prosa lesen schließen ihrerseits mit einer Übungsphase ab.

Fortfolgend können Sie in den Teilkapiteln Exempla Optima und Exempla Optima im Web das Spektrum an Audiodateien im Sinne eines "best practice" erkunden. Einerseits werden hier im Reiter Exempla Optima innerhalb dieses Projekts aufbereitete Textsequenzen, andererseits im Reiter „Exempla Optima im Web“ weitere Audio-Darbietungen von der Society of Greek and Latin Literature für eine weiterführende eigenständige Beschäftigung angeboten.