Die Iktus-Frage: Historische Perspektive

Lateinische, quantitierende Metrik

Antike lateinische Verse erweisen sich dadurch als einer metrischen Gattung zugehörig, dass eine geregelte Abfolge von langen und kurzen Silben einen bestimmten Rhythmus konstituiert. Sehen Sie dazu den Beginn der Aeneis mit Angabe der Silbenquantitäten, also mit metrischer Analyse:

Deutsche, akzentuierende Metrik

Deutsche Verse erweisen sich dadurch als einer metrischen Gattung zugehörig, dass ein geregelte Abfolge von Hebungen und Senkungen einen bestimmten Rhythmus konstituiert. Sehen Sie dazu ein Beispiel von Heinrich Heine mit Angabe der Hebungen, bzw. der betonten Silben:

Ich weíß nicht, was sóll es bedeúten,

daß ích so traúrig bín.

Ein Mä́rchen aus álten Zeíten,

das kómmt mir nícht aus dem Sínn.

(Heinrich Heine, Die Lore-Ley 1–4)

Der Takt im Lateinischen

In klassischen lateinischen Versen entsteht durch die Regelmäßigkeit der Abfolge von Metren ein Takt, welcher sich aber neben und zugleich mit den natürlichen Wortbetonungen durch die Folge von Silbenquantitäten von selbst realisiert. Die schwere Taktzeit aber als Betonung umzusetzen, hieße, iktierend zu lesen! Sehen Sie hier zur Illustration den Beginn der Aeneis mit „Taktstrichen“ zwischen den Versfüßen:

 

Árma ví|rumque cá|nō, Trṓi|ae quī | prī́mus ab | ṓrīs

Ītáli|am fā́|tō prófu|gus Lā|vī́niaque | vḗnit

...

(Verg. Aen. 1,1-2)

 

Mittelalterliche lateinische Dichtung

Im Mittelalter werden lateinische Verse unter Vernachlässigung einer regelmäßigen Quantitätenabfolge so konstruiert, dass die natürlichen Wortakzente zu Hebungen werden, die den Rhythmus bestimmen. Iktus und Wortakzent fallen somit – anders als in der antiken lateinischen Dichtung – in eins:

Claúso Crónos et seráto

Cárcere ver éxit

Rísu Ióvis reseráto

Fáciem detéxit.

 

Aús des Krónos

Kérker wíeder

Kám der Lénz gegángen

Júpiter blickt fróh herníeder

Freúde án den Wángen

 

(Carmina Burana 73 1a)