Tutorium Augustanum

Methode der Quellenkritik

Die Quellenkritik ist die grundlegende Methode historischen Arbeitens. Sie folgt dabei den allgemeinen Prinzipien des logischen Denkens. Der große Theodor Mommsen formulierte das in seiner Rektoratsrede von 1874 so:

Die Elemente der Geschichtskunde können nicht gelernt werden, weil jeder sie ohnehin besitzt Die Geschichte ist ja nichts anderes als die deutliche Erkenntnis tatsächlicher Vorgänge, also zusammengesetzt teils aus der Ermittelung und der Sichtung der darüber vorliegenden Zeugnisse, teils aus der Zusammenknüpfung derselben nach der Kenntnis der einwirkenden Persönlichkeiten und der bestehenden Verhältnisse zu einer Ursache und Wirkung darlegenden Erzählung. Jenes nennen wir historische Quellenforschung, dieses pragmatische Geschichtschreibung. Aber diese Tätigkeit treiben nicht wir Historiker allein, sondern jeder von Ihnen, meine Herren; jeder denkende Mensch überhaupt ist ein solcher Quellenforscher und Pragmatiker. Sie können keinen Vorgang, der unter Ihren Augen sich vollzieht, auffassen, ohne beides anzuwenden; jeder Geschäftsmann, der eine verwickelte Sache behandelt, jeder Rechtsverständige, der einen Rechtsfall erwägt, ist Quellenforscher und Pragmatiker. Die Elemente der historischen Wissenschaft sind, man möchte sagen, noch einfacher und noch selbstverständlicher als die der Sprachwissenschaft und der Mathematik; und eben darum weder lehrbar noch lehrhaft. […] Die richtige Schätzung der vorliegenden Zeugnisse, die rechte Verknüpfung des scheinbar Unzusammenhängenden oder Sichwidersprechenden zur tatsächlichen Folge treten überall in so unendlicher Einfachheit der Prinzipien und so unendlicher Mannigfaltigkeit der Anwendung auf, daß jede Theorie entweder trivial ausfallen müßte oder transcendental. Daß Zeugen vom Hörensagen nur so viel gelten, wie der Gewährsmann des Hörenden gilt, ist so ziemlich der einzige Lehrsatz, den die Quellenforschung aufzuweisen hat; und die divinatorische Sicherheit des Urteils, die den eminenten Historiker bezeichnet, ist in neun Fällen unter zehn nichts als eine unbewußte Anwendung dieses Lehrsatzes auf komplizierte Probleme. Der Schlag aber, der tausend Verbindungen schlägt, der Blick in die Individualität der Menschen und der Völker spotten in ihrer hohen Genialität alles Lehrens und Lernens. Der Geschichtschreiber gehört vielleicht mehr zu den Künstlern als zu den Gelehrten.“

Daran schließt sich dann allerdings ein Plädoyer für das harte Studium der Grund- und Schwesterwissenschaften an! Der entscheidende Grundsatz ist schon einmal, dass der Historiker in der Lage sein muss, die herangezogenen Quellen überhaupt zu verstehen, d. h. er benötigt fundierte philologische und paläogaphische Kenntnisse. Darüber hinaus wäre gegen Mommsen vielleicht doch festzuhalten, dass logisches Denken und Urteilen durchaus in einem gewissen Sinne geschult werden kann. Keinem anderen Zweck dient das Geschichtsstudium! Dies ist freilich ein langwieriger Prozess – man kann ein Gespür für quellenkritisches Arbeiten in der Tat nicht aus dem Handbuch lernen, man kann es nur in der ständigen Übung entwickeln.

Obwohl das so ist, sei hier dennoch eine Auflistung grundlegender Denkfiguren der Quellenkritik gegeben, die einer ersten Orientierung dienen kann. Die einzelnen Arbeitsschritte sind dabei nicht strikt chronologisch geordnet, sondern sind als miteinander verwoben zu denken:

  1. Sicherung der Quellengestalt: z. B. Herstellung eines gesicherten Textes aus zumeist mittelalterlichen Handschriften bzw. antiken Papyri oder Inschriften, Rekonstruktion eines archäologischen Denkmals.
    In der Regel wird sich der Althistoriker hier auf die Ergebnisse der jeweiligen Spezialdisziplinen verlassen müssen (Klassische Philologie, Papyrologie, Archäologie). Freilich sollte dies nicht zu kritikloser Gläubigkeit oder völliger Vernachlässigung führen. Die neuere Fachliteratur ist vielmehr unbedingt zur Kenntnis zu nehmen!
  2. Echtheitskritik: Viele Werke der antiken Literatur wurden unter falschen Autorennamen überliefert. Ein wichtiges Motiv dafür konnte die Inanspruchnahme der mit einem bestimmten Autor verbundenen Autorität sein. Für die historische Einordnung einer Quelle wie der im sallustianischen Corpus überlieferten Epistulae ad Caesarem senem ist es natürlich von großer Bedeutung, ob es sich hier tatsächlich um authentische Briefe des Caesar-Zeitgenossen Sallust oder um eine rhetorische Übung in sallustischem Stil aus dem 1. Jh. n. Chr. handelt. Bei archäologischen Artefakten liegt die Gefahr der Fälschung aus kommerziellen Gründen auf der Hand. Auch bei Inschriften ist übrigens an diese Möglichkeit zu denken, zumal viele Texte nur in notorisch unzuverlässigen Abschriften aus dem Mittelalter und der Renaissance überliefert sind.
  3. Einordnung der Quelle in ihren Kontext im Hinblick auf Autor und Inhalt: Die Einholung von Informationen über den Autor (Schaffenszeit, sozialer Stand, politische Verortung usw.), die Entstehungshintergründe der vorliegenden Quelle, ihre zeitgenössische Funktion, sowie die Abklärung von sachlichen Unklarheiten (Personen, Orte, Institutionen, termini technici) mit Hilfe der einschlägigen Lexika, Handbücher und Kommentare ermöglichen oft erst ein Verständnis der Quelle. Nicht vernachlässigt werden darf auch, isoliert zitierte Quellenpassagen in den Gesamtzusammenhang des Werkes einzuordnen, dem sie entnommen wurden.
  4. Historische Kritik: Überprüfung der Glaubwürdigkeit einer Quellenaussage nach den Kriterien der
    1. Inneren Kohärenz (Gibt es Widersprüche innerhalb der Quelle?)
    2. Äußeren Kohärenz (Gibt es Widersprüche zu anderen Quellen über denselben Untersuchungsgegenstand? Fügt sich die Quelle in ein durch andere Quellen vermitteltes Gesamtbild ein?)
    3. Überlieferungskontinuität (Kann der Autor der Quelle überhaupt über gesicherte Kenntnisse der von ihm dargestellten Ereignisse besessen haben? Lagen ihm Primärquellen oder zuverlässige Sekundärquellen vor?)
    4. Intentionalität (Welche Absichten lagen der Erstellung der Quelle zugrunde? Ist eine Tendenz zu erwarten?)
      Dazu ist bei literarischen Quellen zunächst eine philologische Interpretation zu leisten, die den Gedankengang des Textes herausarbeitet. Bei der Frage nach der Intentionalität einer bestimmten Quelle sind nicht nur die Motive des Autors/Auftraggebers, sondern auch die Erwartungshaltung und der Verständnishintergrund des anvisierten Publikums zu beachten.
    5. Topik/Genregebundenheit (Sind Aussagen der Quelle durch Genrekonventionen oder Allgemeinplätze/Klischees festgelegt?)
    6. Plausibilität (Ist die Darstellung der Quelle glaubhaft?)
      VORSICHT!!! Das Plausibilitätskriterium ist stark von subjektiven und zeitgebundenen Vorannahmen des Historikers abhängig. Es ist daher mit äußerster Vorsicht zu benutzen und gerade von Anfängern besser gänzlich zu meiden. Dennoch gibt es natürlich Angaben in den Quellen, die offensichtlich als unplausibel, weil übertrieben, zurückzuweisen sind. Dies trifft z. B. oftmals auf Zahlenangaben zu. Ansonsten sind Plausibilitätserwägungen, etwa bei Vorliegen widersprüchlicher Quellenaussagen, Teil der historischen Deutungsarbeit und somit von der – wenigstens idealerweise – nach streng objektiven Kriterien verlaufenden Quellenkritik zu scheiden.

Für die praktische Quellenarbeit ergibt sich daraus der universell anwendbare Fragenkatalog der 5 Ws.

Diese Kontextualisierung ist nicht nur bei literarischen Texten zu leisten, sondern bei allen Quellen!

WER hat den Text verfasst/das Objekt in Auftrag gegeben, erzeugt, benutzt, deponiert?
Beispiele: Gehörte der Autor eines literarischen Textes dem Ritter- oder dem Senatorenstand an? War der Auftraggeber eines pompösen Grabmonumentes Senator oder Freigelassener des Kaisers?

WANN ist der Text/das Objekt entstanden?
Beispiele: Ist die Darstellung der Dakerkriege auf der Trajanssäule in Rom noch zu Lebzeiten Trajans selbst entstanden oder erst unter seinem Nachfolger Hadrian?

WO ist der Text/das Objekt entstanden/aufgefunden worden?
Beispiele: Ein attischer Krater wird in Südgallien aufgefunden, wie kommt er da hin? Arbeitet ein Historiker im Umkreis des Kaiserhofes oder in der Provinz?

WARUM ist der Text/das Objekt entstanden?
Beispiele: Handelt es sich bei einer Inschrift um eine Bau- oder eine Dedikationsinschrift? Hat der Autor eine Briefsammlung bewusst für eine Veröffentlichung gestaltet?

WIE ist der Text/das Objekt gestaltet?
Beispiele: Wie gliedert ein Autor seinen Stoff? Welche Fragen hat er an seine Primärquellen herangetragen? Augustus feiert die signa recepta ausgerechnet durch die Aufstellung eines Dreifußes vor dem Tempel des Apollo Palatinus, warum?

 

Anschauliche Beispielinterpretationen literarischer und epigraphischer Quellen finden Sie bei

  1. Meister, Klaus: Die Interpretation historischer Quellen. Schwerpunkt: Antike. Band 1: Griechenland, Paderborn 1997.
  2. Ders.: Die Interpretation historischer Quellen. Schwerpunkt: Antike. Band 2: Rom, Paderborn 1999.
  3. Möller, Astrid: Quellen der Antike, Paderborn 2020.