Tutorium Augustanum

Eigenart der Alten Geschichte

Die Quellen bilden – wie ja schon der Name anzeigt – die Grundlage all unseres Wissens über die Vergangenheit. Da sich die Rekonstruktion von Vergangenheit durch den Historiker idealerweise nur auf zeitgenössische Zeugnisse stützen sollte, könnte man den Quellenbegriff im engsten Sinne auf eigentliche Überreste dieser Vergangenheit einschränken. Da jedoch diese sogenannten Primärquellen für die vormodernen Geschichtsepochen vielfach verloren sind, muss der Historiker auf Sekundärquellen zurückgreifen, d. h. möglichst zeitnahe Darstellungen, die jedoch auf den nicht mehr erhaltenen Primärquellen basieren. Seine Aufgabe besteht in diesem Fall zunächst in der quellenkritischen Dekonstruktion der allein vorliegenden Sekundärquellen, um aus ihnen ggf. die verlorenen Primärquellen zu erschließen, ihre Tendenz zu erkennen und ihre Glaubwürdigkeit zu ermitteln. Es gibt also keinen grundsätzlichen qualitativen Unterschied zwischen Sekundärquelle (~ "Primärliteratur") und Sekundärliteratur; die Grenze verläuft vielmehr aufgrund rein pragmatischer Erfordernisse dort, wo eine historiographische Darstellung nicht mehr als Ersatz für heute verlorenes Primärmaterial herangezogen werden muss. Daraus folgt ein potentiell sehr weiter Quellenbegriff, der in der Alten Geschichte auch praktisch zur Anwendung kommt, da ihre charakteristische Eigenheit eine relative Armut an Quellen ist. Der Althistoriker muss daher im Bereich der literarischen Quellen auch die Werke der Dichter berücksichtigen, daneben aber auch eher dingliche Quellen wie Münzen, Denkmäler (oft mit Inschriften versehen), Bildwerke usw. Daraus resultiert ein ganzheitlicher Zugriff, wie er eigentlich für das Verständnis jeder geschichtlichen Epoche notwendig, aber aufgrund der Materialfülle selten zu bewältigen ist. Die Quellenarmut der Alten Geschichte ist daher zugleich Herausforderung und Chance.

Quellenbegriff
Aus dem Gesagten folgt, dass Alt- und Neuhistoriker unter "Quellen" mitunter etwas ganz anderes verstehen. Quellen und Darstellungen bilden in der Alten Geschichte kein komplementäres Begriffspaar! Der althistorische Quellenbegriff steht dem literaturwissenschaftlich-philologischen vielfach näher als dem neuhistorischen. Machen Sie sich diese terminologischen Differenzen und ihre Ursachen bewusst, sonst kann die Begriffsverwirrung schnell zu inhaltlichen Missverständnissen und Fehleinschätzungen führen.

Wenn der Althistoriker mit Sekundärquellen operiert, unterscheidet sich sein Vorgehen von dem des Neuhistorikers insofern, als die vorliegenden historischen Narrationen zuerst einmal dekonstruiert werden müssen, bevor eine neue Rekonstruktion der erzählten Vergangenheit ("Geschichte") vorgenommen werden kann.

Eigentliche Quellenkunden und Einführungen in die Methodik der Alten Geschichte sind rar. Das ist umso bedauerlicher, als die Quellen der Alten Geschichte hinsichtlich Verschiedenheit, Erhaltungszustand und möglichen Interpretationsmethoden zweifellos besondere Anforderungen an den Historiker stellen.

Corvisier, Jean-Nicolas: Sources et méthodes en histoire ancienne (= Collection premier cycle), Paris 1997.
Dieses Buch kann fast vorbehaltlos empfohlen werden. Auf ca. 230 Seiten wird kompakt in die verschiedenen Quellengattungen eingeführt, wobei jeweils Überlieferungssituation, Interpretationsmethoden und Quellenwert behandelt werden. Hier bekommen Sie notwendiges Hintergrundwissen über die Erstellung einer kritischen Textausgabe für einen literarischen Text ebenso wie über Datierungsmethoden in der Archäologie von der Dendrochronologie bis zur Thermolumineszenzmethode. Nicht dass man das als Althistoriker alles selbst im Detail beherrschen müsste, aber das Wissen um Stärken und Schwächen (Fehlertoleranzen!) der verschiedenen Methoden ist essentiell für die verantwortliche Heranziehung von Forschungsergebnissen aus den Grund- und Schwesterwissenschaften!

Crawford, Michael (Hg.): Sources for ancient history (= The sources of history. Studies in the uses of historical evidence), Cambridge 1983.
Ebenfalls ein hervorragender Überblick über die Quellen der Alten Geschichte. Hier dennoch nur an zweiter Stelle genannt, weil die technischen Aspekte der einzelnen Hilfswissenschaften weitgehend ausgeklammert bleiben. Dafür wird die Aussagekraft aller Quellengattungen jeweils an vielen aussagekräftigen Beispielen veranschaulicht.

Hedrick, Charles W.: Ancient history. Monuments and documents (= Blackwell introductions to the classical world), Malden 2005.
Bietet nach einem Kapitel zur Entwicklung der Geschichtsschreibung als akademischer Disziplin eine problemorientierte Einführung in den Umgang mit den einzelnen Quellengattungen.