Tutorium Augustanum

Methodik und Editionspraxis

Die Beschäftigung mit einer Inschrift hat immer vom Stein selbst und seiner Beschreibung auszugehen. Da Autopsie oft aus praktischen Gründen nicht möglich ist, stehen als Substitute Photographien und – besser – Abklatsche zur Verfügung. Abklatsche werden angefertigt, indem ein reißfestes und saugfähiges ungeleimtes Spezialpapier durchnässt auf den Stein aufgebracht und mit einer Bürste festgeschlagen wird. Nach dem Trocknen lässt sich die Papierschicht abziehen und gibt ein genaues Abbild der Oberflächenstruktur des Steines. Tatsächlich können Photographien (bei guter Beleuchtung) und Abklatsche auch als Hilfe bei der Lesung schlecht erhaltener Inschriften dienen. Durch die am Computer gegebenen Möglichkeiten der Bildbearbeitung stehen weitere Hilfsmittel zur Verfügung.

Mit Hilfe der genannten Mittel ist sodann ein lesbarer Text herzustellen, wobei zumeist in zwei Schritten verfahren wird. Zunächst erfolgt eine Majuskelübertragung, die einfach alle Zeichen auf dem Stein wiedergibt wie gelesen. Erst in einem zweiten Schritt wird aus dieser bloßen Transkription ein lesbarer Minuskeltext, der vom Herausgeber durch Groß- und Kleinschreibung und v. a. Satzzeichen gegliedert wird. Diese Zweischrittigkeit entspricht der antiken Schreibpraxis, die in Bezug auf Wort- und Satztrennungen sehr zurückhaltend war (Prinzip der scriptio continua).

Die kritische Edition erfolgt unter Anwendung des sogenannten Leidener Klammersystems, das ursprünglich für papyrologische Editionen entwickelt wurde, heute aber einen Standard für textkritische Ausgaben aller Art darstellt. Die wichtigsten Konventionen sind im Folgenden zusammengestellt (dazu zuletzt Krummrey, Hans/Panciera, Silvio: Criteri di edizione e segni diacritici, in: Tituli 2 (1980), S. 205-215):

  • ( ) runde Klammern: Expansion von Abkürzungen des Textzeugen durch den Editor
    Beispiel: IMP ~ IMP(erator)
  • [ ] eckige Klammern: vom Editor vorgeschlagene Ergänzung einer Lücke im Textzeugen
    Beispiel: C SENTIO SATVRNINO LE --- R ~ C(aio) SENTIO SATVRNINO LE[G(ato) AVG(vsti) PR(o) P]R(aetore)
  • <> spitze Klammern: vom Editor vorgeschlagene Veränderung (heute auch oft durch kleine Winkelchen über dem Buchstaben angezeigt) oder ein Zusatz (ohne Lücke im Textzeugen)
    Beispiel: TIBERIVM REFECIT ~ TIBERI<E>VM REFECIT
  • [[ ]] doppelte eckige Klammern: bereits im Altertum bewusst aus dem Textzeugen Getilgtes (etwa im Zusammenhang mit Korrekturen, häufig als Folge der sogenannten damnatio memoriae); ACHTUNG!!! Oft sind derartige Rasuren durchaus noch lesbar! Wenn daher der für eine ausgemeißelte Passage gegebene Text nur ergänzt wird, wird dies zunehmend durch eine dritte eckige Klammer deutlich gemacht.
    Beispiel: [[DOMIT[IAN]O]]
  • { } geschweifte Klammern: erst vom Editor als Verschreibung aus dem Textzeugen Getilgtes
    Beispiel: TERPNVS CAES CAES SER ~ TERPNVS CAES(aris) {CAES} SER(vvs)
  • † ... † Kreuze: locus desperatus (crux), bei dem der Editor den offenbar verderbten Wortlaut des Textzeugen nicht verständlich machen konnte
  • . Punkte unter Buchstaben: Unsicherheit der Lesung des Textzeugen durch den Editor (etwa wenn nur Teile eines Buchstabens erhalten sind)
  • ... Punkte auf der Zeile: vermutete Zahl fehlender Buchstaben
  • --- Spiegelstriche: unbestimmbare Zahl fehlender Buchstaben
  • | || senkrechte Striche: Zeilenwechsel im Textzeugen (doppelte jede fünfte bzw. vierte Zeile)

Es liegt auf der Hand, dass bei der inhaltlichen Auswertung von edierten Inschriften genau zwischen Textpassagen außerhalb und innerhalb eckiger Klammern zu unterscheiden ist! Text innerhalb eckiger Klammern bringt nie einen historischen Erkenntnisgewinn, da eine (verantwortliche) Ergänzung nur anhand eines aus anderen (besser erhaltenen) Texten gewonnenen Vorwissens erfolgen kann. Nicht immer erheben Ergänzungen den Anspruch, die ursprüngliche Textgestalt wiederzugeben, manchmal bietet der Editor auch einen Text beispielshalber, der seine Theorien über Typus und allgemeinen Inhalt der Inschrift illustrieren soll. In jedem Fall ist eine Ergänzung immer zu hinterfragen! Sonst besteht die Gefahr, history from square brackets zu schreiben, wie es Ernst Badian treffend formuliert hat. Mit anderen Worten: Der Historiker dichtet sich dann in die Textlücken die Ergänzungen hinein, die er benötigt, um bestimmte Thesen zu beweisen.

Lateinische Inschriften haben die besonders für Anfänger oft abschreckende Eigenheit, viele Begriffe und gebräuchliche Formeln abzukürzen. Für den Uneingeweihten bietet sich dann nur ein sinnloser Buchstabensalat. Eine der wichtigsten Aufgaben des Editors ist daher die Auflösung dieser Kürzel. Gute Dienste leisten dabei folgende Hilfsmittel:

Auch die Datierung von Inschriften ist oftmals schwierig, jedenfalls sofern nicht im Text selbst ein absolutes Datum genannt wird. Die ältere Forschung setzte großes Vertrauen in die Datierung nach Schriftformen und stilistischen Kriterien. Wenngleich besonders bei griechischen Inschriften die Buchstabenformen gewisse Indizien zu geben vermögen, werden doch derartige Rückschlüsse zunehmend als fragwürdig angesehen. Eine Chronologie von Schriftstilen lässt sich bestenfalls für wenige Städte mit hoher epigraphischer Überlieferungsdichte erstellen, aber auch hier sind dem Verfahren Grenzen gesetzt. Eine Ausnahme bilden möglicherweise (aber auch dies ist umstritten) Versuche, in Inschriften ähnlich wie in der Paläographie einzelne Steinmetzhände nachzuweisen (für Kos http://archive.csad.ox.ac.uk/Kos/Lettering mit Bildmaterial). In der Regel bleiben aber chronologische Angaben im Text selbst bzw. Nennung von datierbaren Personen (meist Amtsträgern) der einzig sichere Grund für eine Datierung. Wichtige Hilfsmittel in diesem Zusammenhang sind:

  1. Broughton, Thomas R.: The magistrates of the Roman republic [3 Bde.] (= APhA Philological monographs 15,1-3), New York 1951-1986.
    Monumentales Verzeichnis aller Amtsträger der römischen Republik mit vollständigen Quellenangaben. Geordnet nach Jahren. Der dritte Band enthält Nachträge und Ergänzungen, ist daher stets mit zu konsultieren. Zitiert oft als MRR.
  2. Degrassi, Attilio: I fasti consolari dell’impero romano dal 30 avanti Cristo al 613 dopo Cristo (= Sussidi eruditi 3), Rom 1952.
    Maßgebliches Verzeichnis der römischen Konsuln der Kaiserzeit.
  3. Bagnall, Roger S./Cameron, Averil/Schwartz, Seth R. u. a.: Consuls of the later Roman empire (= APhA Philological monographs 36), Atlanta 1987.
    Verzeichnis der Konsuln des Römischen Reiches in der Spätantike.
  4. Thomasson, Bengt E.: Laterculi praesidum [3 Bde.], Göteborg 1984-1990.
    Fortsetzung der MRR für die Provinzstatthalter der Kaiserzeit. Knappe Auflistung aller Statthalter (ritterlich und senatorisch) von 30 v.-284 n. Chr., geordnet nach Provinzen, im ersten Band. Für jeden Amtsträger werden die Referenzen für PIR und RE angegeben, desweiteren die Belege für seine Tätigkeit und ggf. wichtige Forschungsliteratur. Die drei Faszikel des zweiten Bandes bieten das Datenmaterial des ersten graphisch aufbereitet in Form einer Tabelle dar. Der dritte Band schließlich enthält Bibliographie, Nachträge und Indices. Die in der Zeitschrift ORom 20 (1996), S. 161-175, ORom 24 (1999), S. 163-174 sowie ORom 30 (2005), S. 105-122 sowie im Internet publizierten Addenda und Korrekturen wurden mittlerweile in den Haupttext eingearbeitet und dieser vollständig in elektronischer Form freigegeben: http://www.isvroma.it/public/Publications/laterculi.pdf und http://www.isvroma.it/public/Publications/laterculiindices.pdf. Das alles dankenswerterweise nicht auf Schwedisch, sondern auf Lateinisch.
  5. Prosopographia Imperii Romani (PIR)
    Biographien aller bekannten Personen der römischen Kaiserzeit. Soweit fertiggestellt, ist die zweite Auflage zu verwenden. Im Sinne der internationalen Benutzbarkeit ist das gesamte Werk in lateinischer Sprache verfasst. Eine Suche in den Lemmata des Werkes, sowie einer fortlaufend aktualisierten Datenbank mit Addenda ist unter http://pir.bbaw.de möglich.
  6. Kienast, Dietmar/Eck, Werner/Heil, Matthäus: Römische Kaisertabelle. Grundzüge einer römischen Kaiserchronologie, Darmstadt 2017 (6. völlig neu bearb. Aufl.).
    Maßgebliche Zusammenstellung von Regierungsdaten, Schlüsseldaten und Titulaturen. Gerade die Kaisertitulatur gibt oft wichtige Anhaltspunkte zur Datierung von Inschriften. Wenn Sie also etwa nachschlagen wollen, wann ein bestimmter Kaiser einen bestimmten Siegerbeinamen oder den Titel pater patriae annahm, schlagen Sie am schnellsten hier nach.

Daneben sind auch vielfach die in Kap. 13.2 und 13.3 genannten Werke zu Prosopographie und Chronologie hilfreich.

Für den Anfänger ist die Epigraphik oftmals ein Buch mit sieben Siegeln, um das man einen weiten Bogen macht: Erforderliche Sprachkenntnisse und der unbekannte Gegenstand vieler Inschriftentexte schrecken ab. Für jeden, der in der Schule oder universitären Grundlagenveranstaltungen fast ausschließlich politische Ereignisgeschichte kennen gelernt hat, sind epigraphische Quellen schwer zu verstehen, da sie über ganz andere Lebensbereiche Auskunft geben, aber auch diesbezügliches Vorwissen verlangen. Verwaltung, Sozialstruktur, Religion sind hier wichtige Themen. Gerade dies macht freilich Inschriften als Quellengattung auch so besonders interessant. Hinzu kommt die Aura des Alten, denn das vor Jahrtausenden von menschlichen Händen bearbeitete Objekt strahlt natürlich eine andere Faszinationskraft aus als moderne Handbücher. Inschriften sind Vergangenheit zum Anfassen.

Nicht verschwiegen werden soll freilich, dass die Mehrzahl der inschriftlich überlieferten Texte für sich genommen wenig interessant zu sein scheinen. Doch, wenn Sie bei der Lektüre nach der x.ten Grabinschrift die Langeweile zu übermannen droht, denken Sie an Louis Robert:

"Il n’y a pas d’inscriptions banales, il y a seulement une manière banale de les étudier."

Gerade weil es sich bei Inschriften (nach Maßstäben der Alten Geschichte) um Massenquellen handelt, die oft bestimmten Mustern folgen, bietet sich die Anwendung digitaler Methoden an. Mit EpiDoc (http://epidoc.stoa.org) hat sich ein Standard für digitale Editionen in der Epigraphik und Papyrologie in den letzten Jahren weitgehend durchgesetzt. Die über die Bereitstellung von digitalen Corpora und Findmiteln hinausgehenden Möglichkeiten sind freilich noch keineswegs und ausgeschöpft und werden erst in jüngerer Zeit stärker reflektiert:

  1. Velázquez Soriano, Isabel/Espinosa Espinosa, David (Hgg.): Epigraphy in the digital age. Opportunities and challenges in the recording, analysis and dissemination of inscriptions, Oxford 2021.