Tutorium Augustanum

Onomastik

Onomastik ist "Namenskunde" (von griechisch ὄνομα, ónoma, "Name"). Ziel der Onomastik ist es, die Struktur, Herkunft und ggf. semantische Bedeutung bestimmter Namen zu ermitteln. Wichtigstes Hilfsmittel sind große Corpora, in denen die Belege für einen Namen möglichst vollständig und geographisch geordnet gesammelt werden. Besonders wichtig als Nachschlagewerke sind:

  1. A Lexicon of Greek Personal Names (LGPN)
    Die Bände erschließen jeweils das onomastische Material eines bestimmten geographischen Gebietes. Addenda, Korrigenda, zusätzliche Indices und eine Onlinesuche im gesamten publizierten Datenbestand ermöglicht http://www.lgpn.ox.ac.uk. Aufgrund der in Tabellenform ausgegebenen Trefferzahl pro Band erhalten Sie schnell einen Überblick über die geographische Verteilung.
  2. Onomasticon Provinciarum Europae Latinarum (OPEL)
    Kompilation für die in den europäischen Provinzen des Römischen Reiches inschriftlich belegten Namen.
  3. Solin, Heikki: Die griechischen Personennamen in Rom. Ein Namenbuch [3 Bde.] (= CIL Auctarium), Berlin u. a. 2020 (2. erw. u. überarb. Aufl.).
  4. Solin, Heikki/Salomies, Olli: Repertorium nominum gentilium et cognominum Latinorum (= Alpha-Omega, Reihe A 80), Hildesheim 1994 (2. erw. Aufl.).
  5. Solin, Heikki: Die stadtrömischen Sklavennamen. Ein Namenbuch [3 Bde.] (= Forschungen zur antiken Sklaverei, Beiheft 2), Stuttgart 1996.

Wichtige Handbücher sind:

  1. Hornblower, Simon/Matthews, Elaine (Hgg.): Greek personal names: their value as evidence (= Proceedings of the British Academy 104), Oxford 2001.
  2. Cheesman, Clive: Personal names in the Roman world, London 2010.
  3. Dondin-Payre, Monique/Raepsaet-Charlier, Marie-Thérèse (Hgg.): Noms, identités culturelles et romanisation sous le Haut-Empire, Brüssel 2001.
  4. Kajanto, Iiro: The Latin cognomina (= Societas Scientiarum Fennica, Commentationes Humanarum Litterarum 36,2), Helsinki 1965.
  5. Salomies, Olli: Die römischen Vornamen. Studien zur römischen Namengebung (= Societas Scientiarum Fennica, Commentationes Humanarum Litterarum 82), Helsinki 1987.
  6. Salomies, Olli: Adoptive and polyonymous nomenclature in the Roman empire (= Societas Scientiarum Fennica, Commentationes Humanarum Litterarum 97), Helsinki 1992.

Zunächst muss das Namenssystem einer Kultur verstanden werden. Für die westliche Welt unserer Zeit gilt etwa, dass ein vollständiger Name aus mindestens einem Vornamen und einem Nachnamen besteht, und dass dieser die Familienzugehörigkeit bezeichnet. Freilich ist dieses System in Auflösung begriffen. Sie können heute am Namen eines Kindes nicht mehr automatisch die Abstammung väterlicherseits erkennen. Bestimmte Namenselemente können auch Rückschlüsse auf den sozialen Stand erlauben, z. B. Adelsprädikate. Akademische Titel sollten in der Regel Hinweise auf den Bildungsstand geben.

Für die Antike sind folgende Namensschemata wichtig:

(1) Griechisch:

  • Name + Vatersname im Genitiv
    Dionýsios Eutykhídou ~ „Dionysios des Eutychides“
  • Name + Vatersname im Genitiv + Demotikon (Demoszugehörigkeit)
    Dionýsios Eutykhídou Akharneús ~ „Dionysios des Eutychides, aus dem Demos Acharnai“

(2) Römisch:

  • Vorname (praenomen) + Familienname (nomen gentile) + Filiation + Tribuszugehörigkeit
    M(arcus) Iulius C(ai) f(ilius) Pal(atina tribu) ~ Marcus Iulius, Sohn des Gaius, aus dem Stimmbezirk Palatina
  • Das Führen eines cognomen wird erst in der frühen Kaiserzeit allgemein üblich. Zuvor dient es der persönlichen Charakterisierung, und viele cognomina verraten ihre Entstehung als Spitznamen allzu deutlich: Brutus ~ „Blödmann“, Crassus ~ „Fettsack“, Ahenobarbus ~ „Erzbart“, Cicero ~ „Erbse“. Mit der regelmäßigen Führung eines cognomen ist das System der sogenannten tria nomina („Drei Namen“) voll ausgeprägt. Da die Masse der inschriftlichen Überlieferung in das 2.-3. Jh. n. Chr. fällt, stellen die tria nomina für uns die Normalform eines römischen Bürgernamens dar. Traditionell glaubt man, allein aus dem Vorhandensein der tria nomina auf römisches Bürgerrecht schließen zu können. Es wird jedoch immer deutlicher, dass auch Personen latinischen Rechts und peregrine Soldaten in den Auxiliartruppen die tria nomina führten.
  • Vorname (praenomen) + Familienname (nomen gentile) + Filiation + Tribuszugehörigkeit + Beiname (cognomen)
    M(arcus) Iulius C(ai) f(ilius) Pal(atina tribu) Apoplex ~ Marcus Iulius Apoplex usw.
  • Bei Adoption wird oft das ursprüngliche nomen gentile mit dem Suffix -ianus als zusätzliches cognomen angenommen. Nicht immer war dies freilich opportun: Das berühmteste Beispiel ist der nachmalige Kaiser Augustus, der als C. Octavius das Licht der Welt erblickte, sich aber nach seiner testamentarischen Adoption durch Caesar nur noch C. Iulius Caesar nennen ließ. Octavianus nannten ihn nur seine Gegner – und bis heute die moderne Forschung.
    Vorname (praenomen) + Familienname (nomen gentile) + Filiation + Tribuszugehörigkeit + Beiname (cognomen) + ursprüngliche Gentilzugehörigkeit
    M(arcus) Iulius C(ai) f(ilius) Pal(atina tribu) Apoplex Sulpicianus
  • Demos-, Tribus- und Filiationsangaben dienen neben der eindeutigen Identifikation des Namensträgers auch dem Ausweis seines vollen Bürgerrechtes. Sklaven, Freigelassene und Kinder aus rechtlich ungültigen Ehen (ohne conubium, z. B. zwischen einem römischen Bürger und einer Ägypterin) haben rechtlich gesehen keinen Vater – ihre mindere Rechtsstellung spiegelt sich im Fehlen der Filiation, an deren Stelle bei Sklaven und Freigelassenen die Nennung des dominus bzw. patronus tritt:
    Terpnus Caes(aris) ser(vus)
  • Wird dieser Sklave freigelassen, nimmt er praenomen und nomen gentile des Freilassers – hier des Kaisers Trajan – an. Sein ursprünglicher Sklavenname fungiert als cognomen. Während also der Sklavenstatus sich in der Einnamigkeit spiegelt, sind die vollständigen tria nomina den römischen bzw. latinischen Bürgern vorbehalten, unter die sich der Freigelassene einreiht:
    M. Ulpius Aug(usti) lib(ertus) Terpnus
  • Dasselbe gilt für Bürgerrechtsverleihungen. Hier wird der Name des Patrons, der das Bürgerrecht besorgt hat, angenommen. Wenn daher für die gallischen und germanischen Provinzen für das 1. Jh. n. Chr. eine Vielzahl von Iulii unter der lokalen Aristokratie belegt sind, so weist dies eindeutig auf eine Bürgerrechtsverleihung unter Caesar bzw. Augustus (faktisch eher letzteres), also sehr schnell nach der Unterwerfung:
    Iulius Sacrovir, Iulius Civilis usw.
  • Aus diesem Mechanismus folgt, dass etwa eine Inschrift, die einen P. Aelius Onesikrates erwähnt, höchstwahrscheinlich frühestens in die Regierungszeit des Kaisers Hadrian (~ P. Aelius Hadrianus) fällt.
    Seit dem Jahr 212 n. Chr., als auf Edikt des Caracalla (fast) allen freien Bewohnern des Römischen Reiches das Bürgerrecht verliehen worden war, stellen wir in den Inschriften eine Flut von Aurelii fest. (Dass sich sein Vater Septimius Severus nach seiner Erhebung zum Kaiser als Sohn des Marcus Aurelius darstellte, hatte Caracalla das nomen gentile Aurelius beschert.) Daraus lässt sich ein gewisser Datierungsanhalt gewinnen.
  • Die Tribusangabe ermöglicht zuweilen ebenfalls interessante Rückschlüsse auf

    • den sozialen Stand: In der entwickelten Form gibt es insgesamt 35 Stimmbezirke, davon 4 städtische und 31 ländliche. Die städtischen Tribus sind weit weniger angesehen und Freigelassene werden meist hier eingeschrieben. In der Hohen Kaiserzeit treten auch fiktive Tribusangaben auf.

    • die Herkunft: Bestimmte Tribuszugehörigkeiten sind in bestimmten Regionen besonders verbreitet, z. B. infolge von Koloniegründungen.